Damals in Lippe

Geschichten von früher.

Flötpfeifen und Schlüsselblumen

Als ich noch nicht schulpflichtig war, waren mein Freund Richard und ich des Öfteren im Walde – wir sagten immer „im Holz“. Wenn der Winter vorbei war und der Wald aus dem Winterschlaf erwachte und das kleine Gehölz und die Blumen zu knospen anfingen, haben wir immer das Leben der Natur bewundert, obwohl wir noch Kinder waren. Wir machten und zum Beispiel aus der Haut eines Weidenastes Flötpfeifen – so nannten wir sie.

In der Zeit des Treibens der Gehölze saß die Haut an den Zweigen sehr locker. Man musste die Form der Pfeife erst zurecht schneiden und dann die Rinde bearbeiten, um sie leicht von dem Ast lösen zu können. Um diesem Vorgang des Lösens zu erreichen, mussten wir einen Spruch hersagen und dabei auf die Rinde klopfen. So löste sich die Haut vom Holz und wir konnten die Pfeife vom Holz lösen. Den originellen Spruch hatten wir von den „Älteren“ übernommen und mussten ihn genau so auf Platt hersagen:

„Flottpuipken, we neuer wutt diu leujen, inn Sommer wenn ölle Vügel leujet. Kättke cheng naun Berje, halen Emmer vull Sapp, do kamm de aule Koiser doher, schneid der Kätttken den Bort aff, Stert aff, olles wat do uppe satt. Flottpuipken, Flottpuipken, wenn diu nau nich ferch bis, dann schnui ek di den Hals aff.“

Die Pfeife lies sich meist vom Holz lösen.

Wir gingen auch oft in den Siek – so nannte man einen Teil des Waldes. Der Siek war eine große Wiese am Rande des Ermgasser Waldes und war, da sie am Bach lag, ziemlich feucht. Wir waren bei unseren Ausflügen das erste Mal in den Siek gegangen, als alles grünte. Dort angekommen, waren wir sehr erstaunt, dass die Wiese voll mit Blumen war. Es waren Schlüsselblumen, wie ich sie noch nie in dieser Größe gesehen hatte. Diese Blumen waren viel größer als die, die in den Gärten der Dörfer standen. Sie hatten die Größe von Narzissen. Sie haben mich derart begeistert, dass ich auf eine Idee kam: Meine Mutter war vor einigen Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo man ihr Gallensteine entfernt hatte. Bei dem Anblick der Blumen habe ich sofort gerufen: „Ich bringe ihr einen großen Strauß Schlüsselblumen mit!“

Gesagt, getan. Richard half mir auch dabei, einen großen Strauß zu pflücken. Ich ging dann stolz nach Hause. Meine Mutter war dermaßen gerührt, dass sie nichts sagen konnte. So sehr hat sie sich gefreut.

Die Schlüsselblume ist bis heute meine Lieblingsblume geblieben.

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Die Dampfmaschine

Weihnachten stand vor der Tür. Meine Erwartungen waren wie immer nicht sehr hoch. Trotzdem war eine gewisse Spannung da. Der Heiligabend nahte, und die Neugier wuchs von Stunde zu Stunde. Die Bescherung war bei uns zu Hause allerdings erst am ersten Weihnachtstag, wie bei fast allen in unserem Dorf. Bei einigen Familien aus der Stadt, die ich kannte, war die Bescherung schon an Heiligabend. Ich fand das nicht so schön. Erst später, als ich schon verheiratet war und selbst einen Sohn hatte, der zu beschenken war, fand ich den Heiligabend passender und feierlicher.

Doch zurück zu diesem Heiligabend in meiner Kindheit. Wir waren schon ins Bett geschickt worden. Mein Bruder und ich hatten schon herausbekommen, dass mein Schwager, der Mann meiner Schwester Toni, am Tag vor Weihnachten zu uns nach Hause kam –  wahrscheinlich um Weihnachtsgeschenke vorbei zu bringen. Vorher war es zu riskant, weil wir sie ja doch gesucht und bestimmt gefunden hätten. An das Christkind glaubten wir damals schon nicht mehr.

Der Schwager kam wie immer, als wir schon im Bett lagen. Wir hatten die Tür des Schlafzimmers einen kleinen Spalt weit offen gelassen, um nicht zu verpassen, wenn er die Treppe hochkam. Es dauerte nicht lange, da hörten und sahen wir ihn. Er hatte etwas Großes auf seinen Schultern. Was da wohl drin war? Wer bekam so ein großes Weihnachtsgeschenk?

Es folgte für uns eine lange Nacht, bis endlich „Aufstehen!“ gerufen wurde. Wir sind dann im Nachthemd – wir kannten noch keine Schlafanzüge – schnell in die Wohnküche gelaufen, die die Mutter schon geheizt hatte, und bewunderten die Bescherung.

Was mein Bruder bekommen hatte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass auf dem Tisch eine große Platte mit vielen Dingen stand, die ich erst gar nicht alle überschauen konnte. Mit der Zeit hatte ich die einzelnen Teile erkannt und stellte fest, dass es sich um eine Dampfmaschine handelte und um mehrere Sachen, die durch die Dampfkraft angetrieben wurden. Die Dampfmaschine, so wurde mir erklärt, müsse mit Spiritus angeheizt werden. Nur durfte ich das ohne Aufsicht nicht machen. So machte mein Schwager, der extra gekommen war, die Dampfmaschine startbereit. Man konnte nur staunen, was jetzt alles in Bewegung war.

Wie gesagt, ich allein durfte die Maschine nicht anheizen. Ich habe es eines Tages natürlich trotzdem versucht, musste aber aufgeben. Die Maschine stand dann da und lief nur, wenn sie von Älteren angeheizt wurde. Es war eine wunderbare Anlage.

Doch eines Tages war die gesamte Anlage verschwunden. Ich wusste gar nicht, was mir geschehen war. Ich war enttäuscht, man kann es gar nicht beschreiben.

Mit der Zeit hörte ich von einigen Leuten, die genau wussten, was mit der Maschine geschehen war: Mein Schwager hatte einem Bekannten, der zufällig auch noch mein Vetter war, versprochen, ihm die Dampfmaschine zu geben. Obwohl sie ja mir gehörte. Man muss es sich einmal vorstellen: meine Dampfmaschine an jemand anderen zu verschenken! Das war die traurigste Weihnachtsgeschichte, die ich je erlebt habe.

Sicher – die Dampfmaschine hatte mein Schwager in viel Kleinarbeit hergestellt. Das hatte sicher viel Zeit gebraucht. Trotzdem durfte er meine Dampfmaschine nicht wieder an andere verschenken oder verkaufen. Das habe ich nie begriffen, und ich habe es meinem Schwager auch nie so ganz verziehen.

Die schönen Eimer

Es war an einem schönen Sommersonntag. Mein Freund Richard und ich trugen unsere Sonntagskleidung: Ich, wie schon seit Langem, einen Samtanzug. Richard hatte, auch wie immer am Sonntag, einen Strickanzug an.

Es war ein warmer Morgen – wo gehen wir hin? Es war wie fast immer ein Weg ins Holz oder an die Bieke, die durch den Wald floss. Auf dem Weg dorthin kamen wir an einer Stelle vorbei, wo die Leute des Öfteren altes Zeug hinwarfen. Wir stöberten wie immer an der „Müllhalde“ herum und machten eine wunderbare Entdeckung: Wir fanden zwei Eimer mit Henkel. Sie waren wie neu! Wir wollten sie sauber machen und mit nach Hause nehmen. Außen waren sie so blank wie neu. Aber innen sah es schon etwas anders aus. Der Boden war mit weißem Zeug bedeckt. Da haben wir unsere Ärmel hochgekrempelt und uns mit unseren bloßen Händen daran gemacht, das Zeug, das ziemlich klebrig war, aus den Eimern herauszuholen. Wir bekamen das Zeug – es hatte sich inzwischen herausgestellt, dass es sich um weiße Lackfarbe handelte – heraus, nur von unseren Händen bekamen wir die Farbe nicht wieder herunter.

Da die Abfallstelle nah am Bach lag, dachten wir: Mit Wasser bekommen wir das Zeug wieder herunter. Denkste – auch mit Wasser und Sand wurde es nur noch immer schlimmer. „Was tun?“ sprach Zeus. Unsere Anzüge waren auch nicht ganz sauber geblieben.

Es half nur eins: nach Hause. Mit gesenkten Köpfen traten wir den Weg nach Hause an. Es gab von beiden Elternpaaren ein gewaltiges Donnerwetter. Man hat dann versucht, mit Spiritus alles wieder einigermaßen sauber zu bekommen. Der Sonntag war für Richard und mich gelaufen. Und an die schönen Eimer hat niemand mehr gedacht.

Der Teddybär

Mein Vater und ich waren an einem Sonntag im Sommer zu meiner Mutter gefahren. Sie war in Bielefeld im Krankenhaus operiert worden, um ihr die Gallensteine zu entfernen. Es ging ihr aber schon wieder ganz gut. Den Wege vom Bahnhof bis zum Krankenhaus gingen wir zu Fuß, damit ich mir die Schaufenster der vielen Geschäfte ansehen konnte. Was man da alles in den Schaufenstern sah! Das war für uns Kinder, die im kleinen Dorf lebten, alles Neuland. In einem Schaufenster auf dem Wege fiel mir besonders ein für mich sehr großer Teddybär auf. Den hätte ich gern gehabt. Mein Vater hatte das wohl bemerkt, weil ich gar nicht weiterging. Dieser Teddy war für mich jedoch ein Wunschtraum, da wir das Geld dafür bestimmt nicht hatten. Ich habe den Wunsch auch gar nicht laut geäußert, auch später nicht.

Als Weihnachten kam, erwartete ich einen Teller voller süßer Sachen. Unter anderem gab es sicher wieder ein Marzipanschwein, was ich immer gern mochte. Manchmal bekam ich einen Mantel, den sicher meine Schwester genäht hatte. Sie hatte ja Näherin gelernt.

Nur diese Weihnacht war ganz anders. Ich war wie immer auf die Bescherung gespannt. Die fand bei uns immer am ersten Weihnachtstag statt. Tage vor Heiligabend hatte ich schon immer mal geschnüffelt, ob das Christkind nicht doch schon was bei uns versteckt hatte. Das hatte mir meine Mutter streng verboten. Beim Schnüffeln hatte ich dieses Mal etwas Glück. Meine Mutter hatte am Montag Wäsche – das war für mich eine Gelegenheit, mal zu suchen, ob das Christkind schon da gewesen war. Unter dem Vertiko, der im Schlafzimmer meiner Eltern stand, fand ich ein Paket, in dem ein Müller an der Mühle hochkletterte. Das war zum Aufziehen. Ich war ganz selig.

Meine Mutter war am Waschen. Ich nichts wie hin zu ihr, um ihr die frohe Botschaft zu bringen, dass das Christkind schon etwas gebracht hatte. Ich konnte nicht begreifen, dass Mutter erbost war. Jedenfalls würde das Christkind den Müller wieder abholen, sagte Mutter. Als nun die Bescherung am Weihnachtsmorgen kam, war ich sehr überrascht, dass nicht nur der Müller wieder da war. Sondern zur riesigen Überraschung und Freude saß mein großer Teddy, den ich mir im Sommer so sehr gewünscht hatte, auf dem Tisch! Meine Freude war so groß, dass ich den Müller ganz vergaß.

Dieser Teddy war mein schönstes Geschenk vom Christkind. Als ich noch klein war, war er immer mein Schlafgenosse. Ich hatte ihn auch noch, als ich schon verheiratet war. Noch unser Sohn Hans, der 1947 zur Welt kam, hat den Bären in seiner Kindheit sehr gehütet. Er hat dem Teddy die Ärmel mit Nadel und Garn wieder geflickt, noch bevor er in die Schule kam. Lange war der Bär bei uns in der Familie Gast. Er gehörte einfach dazu.

Der Waldteufel

An der Straße, die durch das Holzkamp führte, standen am Ende des Ortes an der Neunzig-Grad-Kurve, die um das Grundstück von Hüls führte, zwei riesige alte Eichen. Eines Tages erzählte man, dass die Bäume gefällt werden sollten. Die Eichen standen „außerhalb“ der Kurve, und die Straße sollte verbreitert werden. Das war nach dem Hochwasser von 1928.

Es war kein Gerücht, denn eines Tages erschienen mehrere Männer mit Pferdewagen und allerlei Geräten und Drahtseilen. Darunter war ein Gerät, das sich als „Waldteufel“ herausstellte – so nannten die Arbeiter das Ding. Wir Kinder waren gespannt, was das werden sollte. Das Drahtseil wurde erst an einem Ende um die Eiche befestigt, und zwar in einer Höhe von ungefähr zehn Metern. Das andere Ende des Seiles wurde an einer anderen Eiche befestigt, die etwa 50 Meter von den Eichen stand, die gefällt werden sollten. Dazwischen wurde dann der „Waldteufel“ gespannt. Unsere Spannung wuchs gewaltig.

Ich will versuchen, den Waldteufel zu beschreiben. Das Gerät hatte einen langen Hebelarm. Wenn man den Hebel bewegte, wurde im Gerät eine Raste bewegt, wodurch der Zug am Seil gespannt wurde.

Die Vorbereitungen waren nun soweit gediehen, dass man nun mit der Fällung beginnen konnte. Wir Kinder mussten jetzt in einigen Abstand zurücktreten. Der Waldteufel wurde aber noch nicht bedient. Die zu fällende Eiche musste nun bearbeitet werden, damit der „Teufel“ seine Kraft ausüben konnte. Mit Säge und Äxten wurde nun eine dreieckige Kerbe in den zu fällenden Baum geschlagen. Damals gab es noch keine elektrische Baumsäge. Gesägt wurde mit einer langen Säge, die von zwei Männern benutzt werden musste. Jetzt sägte man an der Rückseite der Eiche einen Schnitt, damit die Fällung leichter ging.

Dann kam der Waldteufel zum Einsatz: Der Hebel am Gerät musste nun bedient werden. Bei jeder Bewegung straffte sich das Seil und somit wurde die Eiche Zentimeter um Zentimeter umgerissen. Der Baum fiel auf die Straße, wie geplant. Das Ganze war für uns Kinder eine Sensation, aber auch Erwachsene waren als Zuschauer erschienen.

Die neue Straße durchs Holzkamp

Nach dem Hochwasser von 1928 musste einiges repariert oder erneuert werden. Zum Beispiel mussten die Rohre, die den Bach unter der Straße durchließen, vergrößert werden. Hier war ja die Brücke, über die die Straße führte. Man beschloss im Gemeinderat, Rohre mit einem Durchmesser von 100 cm zu verlegen, damit eine weitere Überschwemmung ausgeschlossen werden konnte. Dazu musste die Brücke aber neu gemacht werden. Es war auch beschlossen worden, die Straße durch das Holzkamp zu erneuern, da sie in keinem gutem Zustand war.

Es dauerte nicht lange, da wurde mit der Arbeit begonnen. Die Brücke wurde mit Betonrohren versehen. Dann nahm man die Straße, die von der Grester Straße bis durch das Holzkamp führte, in Angriff. Eine Gleisanlage für Lorenwagen wurde verlegt; damit wurden die Steine für die Brücke und Straße transportiert. Für die Arbeit wurden Arbeitslose eingestellt, von denen es in der schlechten Zeit damals viele gab.

Das alles war für uns Kinder sehr aufregend. Vor allem die Lorenwagen waren für uns etwas ganz Neues. Die Steine, jeder etwa so groß wie ein Fußball, mussten noch zerkleinert werden. Hierfür bekamen die Arbeiter einen kleinen Hammer mit einem langen Stiel, so dass man im Stehen den Stein in kleine Stücke zerlegen konnte. Diese wurden zum Ausfüllen der Lücken benötigt. Das war mühselige Arbeit.

Wenn dann Feierabend war, wurden die Lorenwagen am tiefsten Punkt der Bahn abgestellt. Ein dicker Stock wurde zwischen die Räder gesteckt, damit sich der Wagen nicht selbstständig machen konnte. Wenn die Arbeiter Feierabend hatten und nach Hause gingen, haben wir Kinder uns die Wagen genau angesehen. Das waren Wagen, bei denen man die Ladefläche nach zwei Seiten kippen konnte. Jetzt kamen einige von den „Großen“ auf die Idee, mit dem Lorenwagen zu fahren. Wir hatten ja gesehen, dass die Wagen nicht abgeschlossen wurden. Jetzt wurde beschlossen, einen Wagen wieder zurück bis zur Grester Straße zu schieben, um dann den „Berg“ runter ins Holzkamp zu fahren.

Jetzt waren alle Kinder – wir waren ungefähr zu zehnt – aufgefordert, zusammen den Wagen zur Grester Straße zu schieben. Hierbei durften wir kleinen Kinder sogar mitschieben. Mit großer Mühe haben wir die Lore nach oben geschafft.

Nun sollte die Talfahrt beginnen. In die Ladefläche wollte keiner. Die Großen stellten sich dann auf den äußeren Rahmen. Dann „durften“ wir Kleinen den Wagen anschieben. Da ja ein Gefälle da war, wurde der Wagen bald von selbst schneller, und es brauchte nicht mehr geschoben werden.

Nur an Bremsen hatte keiner mehr gedacht, der Wagen wurde immer schneller. Da die „Großen“ auf dem Rahmen es mit der Angst bekamen, sprangen sie kurz vor Ende der Strecke vom Wagen. Der sauste immer schneller zum Ende der Schienenstrecke und sprang dort aus den Schienen. Er kippte natürlich und stürzte – ich glaube, in die Wiese von August Schewe.

Wir konnten den Wagen nicht wieder auf die Geleise bringen. Ausreißen konnten umso schneller. Die Angst saß uns im Nacken. Es war zwar nichts kaputt gegangen, aber am anderen Tag war die Hölle los. Die Arbeiter mussten die Lore mit ein paar Männern wieder auf die Schienen heben. Einen Tag danach haben die Männer die Lorenwagen dann mit Kette und einem Schloss versehen. Wir haben uns ein paar Tage nicht mehr sehen lassen.

An einem der nächsten Tage mussten wir Holzkämper uns in der Schule eine gewaltige Standpauke anhören. Woher die Lehrer von dieser „Talfahrt“ mitbekommen hatten, wurde uns nicht bekannt. Wir waren noch einmal ohne Blessuren davongekommen.

Konfirmation

Meine Kindheit ging nun über in die Jugendzeit. Ein paar Jahre hatte ich noch, bis ich zu den ganz Großen gehörte, aber die Schulzeit ging für uns langsam zu Ende. Nun hatten wir auch noch den Konfirmanden-Unterricht. Wir mussten einmal in der Woche nach Oerlinghausen zum Unterricht hin, der beim Pastor in der Sakristei stattfand, im Vorraum der Kirche. Darauf hatten die meisten von uns keine Lust.

Wer kein Fahrrad hatte, musste zu Fuß gehen. Wir versuchten immer, eine Entschuldigung für unser Schwänzen zu finden, vor allem, wenn das Wetter schlecht war. Im Winter, wenn es geschneit und gefroren hatte, konnten wir angeblich den Stöhnebrink wegen Rutschgefahr nicht hoch kommen. Das war für uns eine gute Entschuldigung.

Hin und wieder hatten wir in der Kirche Unterricht. Bevor der Pastor kam, machten wir so manchen Unsinn. Man stieg auf die Kanzel und versuchte, eine Predigt zu halten. Es waren aber auch Kinder da, die das Ganze sehr ernst nahmen – Kinder von Eltern, die jeden Sonntag zum Gottesdienst gingen.

Als der Tag der Konfirmation kam, bekam ich einen richtigen Anzug – das heißt, der Anzug hatte eine lange Hose! Das war für die meisten von uns die erste lange Hose. Jetzt fühlten wir uns schon wie Erwachsene. Der Ernst des Lebens fing jetzt erst richtig an.

Allerdings mussten wir auch aufpassen, dass wir alles behielten, was man uns versucht hatte beizubringen. Nach der Befragung inder Kirche vom Pastor kam für uns zuhause die Feier der Konfirmation. Es war bei mir keine große Angelegenheit: Die nächsten Angehörigen waren eingeladen, es war das übliche Kaffeetrinken. Meine Schwester hatte mit meiner Mutter Kuchen und Torten gebacken. Die Feier fand mit zehn Personen in unserer kleinen Wohnküche statt und zog sich bis zum Abend hin.

Mein Opa

Mit der Zeit wurde ich wissbegieriger. Lesen konnte ich ja auch schon früh. Ich fing an, mir Bücher zu leihen oder – von meinem bisschen Taschengeld – sogenannte „Schmöker“ zu kaufen, die nicht so teuer waren.. Das Geld für richtige Bücher, die von Reisen oder Expeditionen handelten, hatte ich nicht. Aber irgendwie hatte ich immer was zu lesen. Die tägliche Zeitung las ich, bevor ich zur Schule ging – erst nur die Hauptschlagzeilen, den Rest dann, wenn ich frei hatte.

Mein Interesse an fernen Ländern und Kulturen wurde durch meinen Großvater geweckt. Er war Seemann von Beruf gewesen. Mein Opa merkte, dass ich Interesse an seinen Erzählungen hatte.

Ich will den Fortgang seines Lebens kurz schildern: 1864 geboren, kam er mit frühen Jahren zum Ziegelhandwerk. In der Ziegelei in Munster an der Stör in Schleswig-Holstein hatte er Arbeit gefunden. Die gebrannten Steine wurden dann mit einem Kahn nach Hamburg verschifft. Damals gab es noch keine Dampfschiffe – die Steine wurden auf Segelschiffe verladen und dann nach Chile oder Peru gebracht. Die Überfahrt dauerte mit dem Segler ein paar Wochen. Mein Opa musste dann immer mit nach Hamburg zum Verladen der Steine. Er zeigte sehr früh Interesse für Schiffe und Seefahrt, und eines Tages heuerte er auf einem der Segler als Leichtmatrose an. Er fuhr einige Jahre zur See. Oft hat er mir von Chile erzählt. Er schwärmte von Valparaiso und vielen anderen Häfen. Auf der Rückreise wurde dann Guano, der Vogeldünger, mitgenommen.

Ich war begeistert von seinen Erzählungen. Für Opa war das harte Arbeit gewesen. Damals musste man, wenn man nach der Westküste Amerikas mit dem Schiff fahren wollte, noch um Kap Hoorn segeln, da es den Panamakanal noch nicht gab. Später, als der Kanal gebaut war, heuerte er auf einem Dampfschiff an. Als Heizer musste er auch dort harte Arbeit leisten. Opa war dann einige Male durch den Panamakanal gefahren. Er erzählte aber auch von New York, von Brooklyn, dem Hudson River, eine Fahrt den Mississippi hinauf, und vieles mehr.

Nach den Erzählungen meines Opas hatten mich die See und die Schifffahrt gepackt. Ich las jetzt viele Geschichten und Abenteuerromane, die sich fast immer um Seefahrt drehten. Nun hatte sich der Wunsch festgesetzt, später, wenn ich älter wäre, aufs Schiff zu kommen.

Musik und Tanz

Oft hatte Richard nachmittags Klavierunterreicht. Sein Vater war neben seiner Beschäftigung als Schuhmacher auch Musiker. Er beherrschte Klavier und Geige. An manchen Abenden spielte er bei kleinen Feiern mit seiner Geige und, wenn ein Klavier vorhanden war, auch darauf. Das waren zum Beispiel Hochzeiten, Silber- und Goldhochzeiten, die nicht im Großen gefeiert wurden.

Er spielte, da die Feiern im Dorf stattfanden, immer volkstümliche Weisen. Dazu wurde noch oft, wenn Platz genug vorhanden war, auf der Deele getanzt wurde. Da es auf der Deele oft stumpf war, wurde dann Persil gestreut, damit die Tänzer besser gleiten konnten. In ausgelassener Stimmung, wenn auch getrunken wurde, waren diese Tänze oft lustig und laut. Es waren dann immer schöne Zusammenkünfte, weil man sich nicht immer sah. Die Arbeit auf dem Lande eignete sich nicht oft für Feiern oder Zusammenkünfte. Auch die Verwandten sah man nicht oft.

Aber zurück zu Richard: Wenn er des Nachmittags Klavierunterreicht hatte, durfte ich im Zimmer bleiben – im Wohnzimmer, wo das Klavier stand. Ich musste aber still sein. Er musste eine Stunde üben. Für mich war das langweilig. Richard war auch kein Freund des Übens. Aber Jahre später sahen wir ein, dass das Üben doch wertvoll gewesen war. Richard spielte dann gut Klavier.

Wir waren auch des Öfteren in der Werkstatt von Richards Vater. Wenn er nebenbei am Schustern war, konnte er uns immer Geschichten erzählen, zum Beispiel die Taten des Schinderhannes. Wir lauschten dann gerne, denn Richards Vater konnte wunderbar erzählen.

Unser Freibad

Wir hielten uns oft am Bach auf, der durch die Wiese von Barkhausen floss, mitten durch die Kuhwiese. Da es Hochsommer war und das Bachbett ziemlich viel tiefer als das Ufer, beschlossen wir, uns ein Schwimmbecken in der Wiese zu bauen.

Wir wollten den Bach, der noch genug Wasser führte, aufstauen. Um den Staudamm zu bauen, haben wir von den Uferständen bewachsene Erde in größeren Klumpen genommen. In der Mitte des Dammes mussten wir eine Öffnung lassen, damit das Wasser uns nicht beim Bau hinderte. So bauten wir die „Staumauer“ ungefähr einen Meter hoch, bis auf die mittlere Öffnung. Diese wurde zum Schluss schnell gefüllt, und der Stausee konnte größer werden.

Es dauerte nicht lange, da war unser „Schwimmbecken“ fertig. Da das Wasser ziemlich warm war, haben wir uns mit der Badehose, die wir dabei hatten, hineingewagt. Es war eigentlich nicht gefährlich, da uns das Wasser nur bis zum Bauchnabel reichte. Schwimmen war nicht möglich, da das Wasser nicht tief genug war, aber wir konnten baden!

Die „Staumauer“ wurde durch das Wasser bald wieder aufgeweicht. Wir hatten ja keine feste Mauer bauen können, da uns nur Erdboden zur Verfügung stand. Im Laufe des Nachmittags wurde die Mauer wieder vom Wasser beseitigt. Wir hatten uns aber zwei Stunden im „Schwimmbad“ vergnügt.

Da inzwischen in Helpup ein Freibad gebaut worden war, konnten wir dort auch schwimmen. Wenn es im Sommer sehr heiß war, bekamen wir – wenn auch nicht oft – hitzefrei und gingen dann am Nachmittag nach Helpup ins Freibad. Nicht jeder konnte das mitmachen. Auch ich konnte nicht immer, weil meine Mutter nicht immer Geld übrig hatte. Ich glaube, der Eintritt kostete fünfzig Pfennig. Aber hin und wieder konnte ich auch zum Freibad.

Das Freibad war für uns wunderbar. Es hatte ein Sprungbrett. Das benutzt wir, die schwimmen konnten, oft. Es waren in meiner Klasse aber nicht viele, die schwimmen konnten. Es gab dort auch ein Becken für Nichtschwimmer. Im Übrigen hatten wir ja unser Schwimmbecken im Teich.

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