Damals in Lippe

Geschichten von früher.

Archiv für den Tag “Juni 4, 2015”

Flötpfeifen und Schlüsselblumen

Als ich noch nicht schulpflichtig war, waren mein Freund Richard und ich des Öfteren im Walde – wir sagten immer „im Holz“. Wenn der Winter vorbei war und der Wald aus dem Winterschlaf erwachte und das kleine Gehölz und die Blumen zu knospen anfingen, haben wir immer das Leben der Natur bewundert, obwohl wir noch Kinder waren. Wir machten und zum Beispiel aus der Haut eines Weidenastes Flötpfeifen – so nannten wir sie.

In der Zeit des Treibens der Gehölze saß die Haut an den Zweigen sehr locker. Man musste die Form der Pfeife erst zurecht schneiden und dann die Rinde bearbeiten, um sie leicht von dem Ast lösen zu können. Um diesem Vorgang des Lösens zu erreichen, mussten wir einen Spruch hersagen und dabei auf die Rinde klopfen. So löste sich die Haut vom Holz und wir konnten die Pfeife vom Holz lösen. Den originellen Spruch hatten wir von den „Älteren“ übernommen und mussten ihn genau so auf Platt hersagen:

„Flottpuipken, we neuer wutt diu leujen, inn Sommer wenn ölle Vügel leujet. Kättke cheng naun Berje, halen Emmer vull Sapp, do kamm de aule Koiser doher, schneid der Kätttken den Bort aff, Stert aff, olles wat do uppe satt. Flottpuipken, Flottpuipken, wenn diu nau nich ferch bis, dann schnui ek di den Hals aff.“

Die Pfeife lies sich meist vom Holz lösen.

Wir gingen auch oft in den Siek – so nannte man einen Teil des Waldes. Der Siek war eine große Wiese am Rande des Ermgasser Waldes und war, da sie am Bach lag, ziemlich feucht. Wir waren bei unseren Ausflügen das erste Mal in den Siek gegangen, als alles grünte. Dort angekommen, waren wir sehr erstaunt, dass die Wiese voll mit Blumen war. Es waren Schlüsselblumen, wie ich sie noch nie in dieser Größe gesehen hatte. Diese Blumen waren viel größer als die, die in den Gärten der Dörfer standen. Sie hatten die Größe von Narzissen. Sie haben mich derart begeistert, dass ich auf eine Idee kam: Meine Mutter war vor einigen Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo man ihr Gallensteine entfernt hatte. Bei dem Anblick der Blumen habe ich sofort gerufen: „Ich bringe ihr einen großen Strauß Schlüsselblumen mit!“

Gesagt, getan. Richard half mir auch dabei, einen großen Strauß zu pflücken. Ich ging dann stolz nach Hause. Meine Mutter war dermaßen gerührt, dass sie nichts sagen konnte. So sehr hat sie sich gefreut.

Die Schlüsselblume ist bis heute meine Lieblingsblume geblieben.

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